Zum Tod von Jean Jülich

Am 19. Oktober verstarb im Alter von 82 Jahren der Kölner Edelweißpirat Jean „Shang“ Jülich. Gestern fand auf dem Südfriedhof in Köln-Zollstock seine Beisetzung statt. Mehrere hundert Trauergäste gaben ihm das letzte Geleit.

Die Trauerrede hielt Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters. Roters würdigte den mit 15 Jahren in Gestapo-Haft geratenen Jean Jülich als „nimmermüden Mahner und Warner“, der „ein Denkmal für die unangepassten Jugendlichen aufzurichten half“.

Auch zu den mehrfach gescheiterten Versuchen, die Kölner Edelweißpiraten noch in der jüngsten Zeit als Kriminelle zu diffamieren nahm der Oberbürgermeister in seiner Trauerrede deutlich Stellung.

Zu den Trauergästen zählten neben der Familie und vielen Freunden und Wegbegleitern und Vertretern der Stadt Köln auch mehrere ehemalige Edelweißpiraten, zahlreiche bekannte Kölner Musiker und seine Freunde aus verschiedenen Jugendbünden.

Sein Abschiedlied – eine Liebeserklärung an Köln und das Auf und Ab im Leben – erklang vom Band. Von ihm selbst geschrieben und gesungen.

Hier die Rede des Oberbürgermeisters Jürgen Roters im Wortlaut:

Rede von Oberbürgermeister Jürgen Roters
anlässlich der Trauerfeier für Jean Jülich
am 27. Oktober 2011, Südfriedhof, Köln-Zollstock

Liebe Frau Jülich, liebe Familie, liebe Freunde und Wegbegleiter von Jean Jülich,

wir treffen heute zusammen, um uns von einem Menschen zu verabschieden, der in den vergangenen Jahrzehnten im öffentlichen Leben Kölns überaus präsent war. Ob als Inhaber einer sehr beliebten kölschen Kneipe, als Karnevalist oder aber – und das ganz besonders – als Zeitzeuge, Buchautor und Musiker zu dem Thema „Jugend im Nationalsozialismus“. Jean Jülich war stets im Wortsinn volksnah, dabei aber immer auch ein kritischer Geist und in diesem Sinne konsequent.

Immer dann, wenn es um die Bewertung jener Jugendlichen ging, die in den Kriegsjahren den Edelweißpiraten angehörten, zeigte er sich kompromisslos, bei Bedarf auch unbequem; auch scheute im Dienst der Sache nicht davor zurück, zu polarisieren.

Folge solcher Konsequenz, die Jean Jülich an den Tag legte, waren einerseits Ehrungen und Auszeichnungen, wie etwa 1984 die als „Gerechter unter den Völkern“ der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, 1991 die mit dem Bundesverdienstkreuz und 2007 und 2008 – gemeinsam mit weiteren Edelweißpiraten – die Auszeichnung mit dem Rheinlandtaler und der Heine-Büste.

Die andere, sozusagen die Schattenseite seines Engagements waren jahrzehntelange Auseinandersetzungen; diese zwangen Jean Jülich schließlich sogar bis vor die Schranken des Gerichts, welches ihm jedoch in sämtlichen Punkten Recht zusprach und somit auch die Edelweißpiraten in ihrer Gesamtheit ein Stück weit rehabilitierte.

Was waren die Gründe, die den Verstorbenen zu einer derartigen, für ihn oft anstrengenden Konsequenz motivierten, ja innerlich sogar dazu zu zwingen schienen? Jean Jülich hatte, das zeigt ein Blick zurück auf sein ereignisreiches Leben, allen Grund für eine solch kompromisslose Haltung.

1929 in Köln geboren – „in furchtbarer Armut“, wie er selbst sagte – begann sein Leben unruhig. Weil sein Vater sich als Kommunist aktiv im Widerstand beteiligte, musste der damals vierjährige Jean 1933 zu den Großeltern umziehen; hier wuchs er auf und in die NS-Zeit hinein, deren Härte und Ungerechtigkeit er von klein auf miterleben musste. So etwa 1936 bei der brutalen Verhaftung seines Vaters, der im Anschluss zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.

Als er 1939 wie alle Zehnjährigen Jungvolk-Pimpf und damit Mitglied in der zur „Staatsjugend“ gewordenen HJ werden musste, wusste Jean Jülich bereits, dass er mit diesem Staat und seinen Repräsentanten nichts zu tun haben wollte. In zwei Kernsätzen fasste er später seine damalige Einstellung zusammen: In Jungvolk und HJ sei stets befohlen worden, „es kam nichts aus der Initiative des Einzelnen heraus“. Wohl noch bezeichnender ist seine folgende Aussage: „Von Grund auf habe ich eine Aversion gegen Strammstehen und Kadavergehorsam.“

Ein ganz anderes Lebensgefühl vermittelten ihm dagegen jene Jugendlichen, die Jean Jülich und seine Freunde seit dem Frühjahr 1942 auf dem Manderscheider Platz in Sülz beobachteten. Bunte, individuelle Kleidung, lange Haare, Gitarren und Lieder – hier tat sich eine vollkommen neue Welt jenseits des Drills, der überzeichneten Disziplin und der Kommandos auf. Wie selbstverständlich wurde der Vierzehnjährige in der Folge zum Edelweißpiraten.

Fortan bestimmten Fahrten zu den romantisch gelegenen Seen des Siebengebirges, die „Klampfe“ und die gemeinsamen Lieder voll Fernweh und Freiheitsdrang sein Leben. So oft wie eben möglich verließ Jean das von Luftangriffen zunehmend zerstörte Köln in Richtung Siebengebirge.

Hierbei ging es zunächst nicht um Widerstand, sondern in erster Linie um die Suche nach Zuflucht und Harmonie. „Die Romantik ist ein Privileg der Jugend“, wurde Jean Jülich später nicht müde zu betonen. Was die Jugendlichen hier vorfanden, hatte so gar nichts mit dem aktuellen Kriegsgeschehen zu tun, und jeder Einzelne, der so dem Alltag Entflohenen, genoss die kurze Wochenendidylle. Eine einheitliche Organisation und gemeinsame Zielsetzung standen dabei jedoch nicht im Vordergrund. „Die Edelweißpiraten“, so eine weitere Aussage von Jean Jülich, vergleiche er gerne mit Gänseblümchen auf der Wiese: „Sie wachsen überall und haben miteinander nichts zu tun.“

Ein solches Selbstbild kollidierte jedoch zusehends mit dem tristen Kriegsalltag in Köln und schließlich dem am Westwall, zu dem auch Jean Jülich noch eingezogen wurde und von wo er umgehend wieder zurück nach Köln floh. Hier, in dieser „Katastrophengesellschaft“, wie sie später zu Recht bezeichnet werden sollte, fiel gerade Jugendlichen eine Orientierung immer schwerer. In den Trümmern trafen sich Menschen, die unter anderen Umständen nie zusammengefunden hätten. Sie alle einte ein starker Überlebenswille und damit die Ablehnung eines brutalen Regimes, das auf den Abgrund zutaumelte. Zugleich versuchten gerade viele der Jugendlichen in dieser von Gewalt geprägten Situation nicht nur das eigene Überleben zu sichern, sondern auch Bedrohten und Verfolgten zu helfen.

Zu ihnen zählte auch Jean Jülich, der in dieser Situation bestrebt war, geradlinig und konsequent, sprich menschlich zu bleiben. Doch noch funktionierte der auf Überwachung und Denunziation fußende Terrorapparat des NS-Regimes, in dessen Fänge nun auch der Fünfzehnjährige geriet. Anfang Oktober 1944 wurde Jean Jülich verhaftet, im EL-DE-Haus und dann in Brauweiler inhaftiert, verhört und misshandelt, um dann kurz vor der Befreiung Kölns im Februar 1945 über Stationen in Siegburg und Butzbach nach Rockenberg verlegt zu werden; dort wurde er schließlich – mittlerweile ernsthaft erkrankt – von den Amerikanern befreit.

Einige seiner Freunde waren im November 1944 von der Gestapo im Rahmen einer öffentlichen Hinrichtung an der Ehrenfelder Hüttenstraße ermordet worden. Diese Untat, mehr aber wohl noch die heftigen Kontroversen um die Beurteilung der ermordeten Jugendlichen, sollten Jean Jülichs Leben in der Nachkriegszeit in erheblichem Maß beeinflussen und zeitweise sogar bestimmen. Wie konnte es sein, dass einige seiner damaligen Freunde, die in den Wirren des Zusammenbruchs des NS-Regimes schuldlos in dessen Fänge geraten waren, nun als Kriminelle diffamiert wurden?

Jean Jülich wurde und blieb daher in dieser Frage aktiv, was zu den eingangs genannten Auszeichnungen, aber eben auch zu den hier nur skizzenhaft beschriebenen Konflikten führte, die er bis ins hohe Alter austrug. Er sah seine Aufgabe jedoch nicht nur darin, für seine alten Freunde zu streiten, sondern war stets auch bestrebt, das Vermächtnis der Edelweißpiraten und aller sonstigen unangepassten Jugendlichen der damaligen Zeit durch persönliches Engagement wachzuhalten.

Indem wir ihn heute zu Grabe tragen, meine Damen und Herren, tritt mit Jean Jülich nicht nur einer der letzten dieser so aufrechten damaligen Jugendlichen, sondern zugleich auch ein nimmermüder Mahner und Warner von der Bühne ab. Und das meine ich durchaus wörtlich, denn im letzten Jahrzehnt seines so ausgefüllten Lebens war er in diesen Fragen, die seine Herzensangelegenheit waren, immer häufiger auf sehr unterschiedlichen Bühnen unterwegs: im Rahmen seiner kleinen, aber so wichtigen Auftritte als Zeitzeuge in Schulen oder auch als Gast von Großereignissen. Unvergessen bleibt etwa sein eindrucksvoller Auftritt beim Konzert im Bürgerhaus Stollwerck im November 2004, wo er eines seiner Lieblingslieder vortrug. „Es war in Schanghai“ wurde in seiner anrührenden Interpretation mit gutem Grund titelgebend für ein großes Musikprojekt, aus welchem sich schließlich das Edelweißpiraten-Festival entwickelte, das seit 2005 den unangepassten Jugendlichen der NS-Zeit ein dauerhaftes Denkmal setzt. Jean Jülich war mit Mucki Koch von Beginn an dabei; beide wurden zu den zentralen Mentoren des Festivals, das seitdem in beeindruckender Weise das verwirklicht, was Jean Jülich bereits für die Edelweißpiraten reklamierte: „Wir haben damals schon Lieder gesungen, die multikulti waren.“

Dabei werden wir alle künftig auf sein aktives und unverwechselbares Mitwirken verzichten müssen. Doch hat Jean Jülich glücklicherweise vorgesorgt und in Form von Büchern, CDs und Internetpräsenz viel zurückgelassen, was dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein nachklingen wird. Auch das Edelweißpiraten-Festival, das nun ohne ihn auskommen muss, wird seinen Beitrag hierzu leisten. Der „Motor“ wird künftig zwar fehlen, das „Denkmal“, das Jean Jülich für die unangepassten Jugendlichen aufzurichten half, aber wird bleiben und dabei stets auch an ihn selbst erinnern.

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